Du gehst auf die hölzerne Tür zu und betrittst den Raum. Er ist
klein, doch groß genug für ein behagliches Feuer, das im Kamin
glimmt. Ein roter Sessel füllt das Zimmer zusammen mit einem
Couchtisch zur Gänze aus, und in die orangefarbene Wand gegen-
über ist eine ebenfalls hölzerne Tür eingelassen. Sie erweckt den
Anschein, dass sie nicht abgesperrt ist, aber für dich scheint der
Sessel um einiges attraktiver. Du lässt dich in das weiche, samtene
Polster fallen. Nur kurz ausruhen … Doch deine Neugier wächst
und wächst. Obwohl deine Augen schwer wie Blei sind, gehst du
langsam auf die Tür zu. Der nächste Raum sieht fast genauso aus
wie der letzte, doch vom Feuer zeugen nur noch ein paar verkohlte
Holzreste. An der ebenfalls orangenen Wand hängt das Gemälde
eines Mädchens. Seltsam … Sie sieht fast so aus wie du, grüne Au-
gen, langes, dunkles Haar. Das Bild war einmal klar und deutlich,
doch das ist Vergangenheit. Das Mädchen ist von Staub übermalt
worden, doch manche Details stechen seltsam deutlich hervor.
Du gehst auf den Tisch in der Mitte des Raumes zu, auf dem eine
kleine Schale mit Trauben steht, und bedienst dich. Mit dem süßen
Geschmack im Mund gehst du auf die nächste Tür zu. Was sich wohl
dahinter verbirgt? Als du sie öffnest, weht dir ein kalter Luftzug
entgegen. Überrascht fährst du zurück, doch dann siegt deine Neu-
gier. Dieser Raum ist größer als die ersten beiden, die Wände sind
eisblau, ein einfacher Stuhl ersetzt den roten Sessel, der Kamin ist
leer, doch an der Wand hängt ein kleiner Spiegel. Du wirfst einen
kurzen Blick auf dein Spiegelbild und steuerst die nächste Tür
an. Hoffentlich wird es dahinter wieder gemütlicher. Der nächste
Raum ist ebenso eingerichtet wie der letzte, doch anstatt eines
Kamins hängt nur ein einfacher Heizkörper an der Wand, die Kabel
wurden aus der Mauer gerissen und hängen schlaff von der Hei-
zung herab. Der Spiegel hat sich etwas vergrößert. Anstatt dich zu
setzen, gehst du zielstrebig auf die diesmal metallene Tür zu in das
nächste Zimmer. Durch viele Räume gehst du, jedes Mal verändert
sich ein Detail, das den Raum ungemütlicher wirken lässt. Mit
jedem Blick in den Spiegel wird die Leere, dieses Gefühl, dass ein
Teil von dir fehlt, stärker, mächtiger, es zieht dich weiter. Durch un-
zählige Zimmer bist du bereits gegangen, seit Kurzem haben sich
die Türen in Glas verwandelt, das jedoch durch seine Beschichtung
undurchsichtig ist. Die Bewegung, mit der du die Tür öffnen willst,
ist fast mechanisch, doch im letzten Moment lässt dich etwas inne-
halten.
Der Spiegel. In diesem Raum ist er fast so groß wie du. Du
gehst auf dein Spiegelbild zu, dein Gegenüber tut es dir nach. Diese
Leere zieht dich wie magisch an den Spiegel, du und dein Bild legen
die Hand darauf und berühren sich. Die Scheibe kühlt deine nass-
geschwitzten Hände. Dein Gegenüber lächelt. Lächelt, obwohl du
nicht lächelst. Und dann flüstert es: „Komm. Du siehst aus, als wür-
den wir zusammengehören.“ Wie in Zeitlupe ziehst du deine Jacke
aus, in dem Bedürfnis, etwas in deiner alten Welt zurückzulassen.
Dann streckst du wie alltäglich erst deine beiden Hände, dann dei-
nen Oberkörper und schließlich deine Füße durch den Spiegel und
fällst deinem Gegenüber in die Arme. Ihr umarmt euch, als wärt ihr
alte Freunde. „Danke“, flüstert dein Spiegelbild. „Danke, dass du
gekommen bist, um uns zu vereinen. Danke, dass du da bist, damit
wir gemeinsam ein besseres Leben führen können.“ Ein letztes Mal
blickst du durch die einzige dir bekannte Verbindung zu allem, was
du kennst. Die andere Seite ist leer. Nur deine Jacke liegt dort ein-
sam am Boden. Und plötzlich seid ihr eins. Deine Hände, die deines
Gegenübers. Deine Füße, die deines Spiegelbilds. Und die Leere,
nicht mehr da. Stattdessen ein volles, zufriedenes Gefühl, das dein
ganzes Leben so bleiben wird. Dein neues Leben. Du gehst auf die
hölzerne Tür zu, die einzige im Raum, und stehst zum ersten Mal
seit langem unter freiem Himmel. In einer anderen, fremden Welt,
aber in einem erfüllteren Leben.
Magazin Federkiel Ausgabe 1, Miriam R.
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